Seite 21 - Vorlage

Basic HTML-Version

zum Spielball der Mächtigen. Im Jahr 1205
eroberte Philipp von Schwaben die Stadt,
deren Bewohner sich vergeblich gegen den
Angriff des Staufers gewehrt hatten. Der His-
toriker Joseph Lange verwies darauf, dass
die Neusser Bürger damals erstmals – wenn
auch vergeblich – „Selbstbewusstsein und
Widerstand“ zeigten. Gut möglich, dass die
kollektive Erinnerung an die Schmach dieser
Niederlage knapp 270 Jahre später dazu
geführt hat, dass die Bürgerschaft sich er-
folgreich gegen einen anderen Angriff zur
Wehr setzte.
Mitte des 13. Jahrhunderts begannen die
Bauarbeiten für die Befestigung der Stadt,
in der zu diesem Zeitpunkt annähernd
3.000 Seelen gelebt haben können. Die fünf
Torburgen (Hamtor, Niedertor, Obertor,
Rheintor und Zolltor) machten dem Reisen-
den schon von Weitem klar, dass er sich
einer wohlhabenden und sich zu schützen
wissenden Stadt näherte. Vor und in der
umwehrten Stadt, die Erzbischof Philipp von
Heinsberg in späteren Jahren als „Schmuck
und Schutz der Stadt“ bezeichnete, siedelten
Klöster sich an. Deren Geschichte ist über
Jahrhunderte eng mit der Geschichte von
Neuss verbunden. Das beschädigte Quirinus-
Münster erblühte zu neuem und größerem
Glanz.
Um Pilger und Kaufleute auf den Straßen
entlang des Rheins zu beschützen, wurde der
Landfriedensbund zwischen Rhein und Maas
gegründet. Im Jahr 1366 schloss Neuss sich
diesem Zweckbündnis an, sodass die Händ-
suchung durch die Normannen trug letzt-
endlich zum wirtschaftlichen Aufschwung
der Stadt bei.
Wer heute über den Büchel, einen Teil
der innerstädtischen Einkaufszone, flaniert,
bewegt sich auf historischem Boden. Im
aufstrebenden Neuss erwacht hier das
christliche und kaufmännische Leben
zur großen Blüte. In unmittelbarer
Nähe zum Quirinus-Münster, dem
Vogthaus (in dem heute eine Gast-
stätte zu finden ist) und dem Rathaus
treffen sich die Fernhandelskaufleute
und gehen ihren Geschäften nach. Pilger
strömen nach Neuss, denn die Stadt wur-
de zu einem der bedeutendsten Wallfahrts-
orte im Rheinland. Die Verehrung und der
Kult des heiligen Quirinus, dessen Reliquien
im Quirinus-Münster in einem kostbaren
Schrein aufbewahrt werden, verbreiteten
sich in ganz Europa.
Obwohl Neuss heute, im Gegensatz zum
ebenfalls niederrheinischen Kevelaer, kein
Wallfahrtsort mehr ist, pilgern Menschen im-
mer noch nach Neuss, um sich vom heiligen
Quirinus Fürsprache und Hilfe zu erbitten.
Die schon damals verkehrsgünstige Lage von
Neuss führte dazu, dass die Kaufmannschaft
ihre weitläufigen Geschäftsbeziehungen aus-
bauen und pflegen konnte. Die Bevölkerung
wuchs und die Stadtwerdung nahm ihren
Lauf. In einer überlieferten Urkunde wird
Neuss im Jahr 1190 bereits als oppidum
(lat. für „kleinere Stadt“) bezeichnet. Im
Laufe seiner Geschichte wurde auch Neuss
groß gewesen sein. Sie gerieten immer stär-
ker in den Bann des Adels und versuchten
daher verzweifelt, sich aus eigener Kraft zu
helfen. Aus dieser Zeit stammt der am Nie-
derrhein sehr bekannte Begriff der „Mot-
ten“, was so viel bedeutet wie ein feuchter
Erdhügel. Die Bevölkerung baute sich diese
künstlich angelegten Burghügel in Flussniede-
rungen. Aus diesen Motten sind später eine
Reihe von Herrensitzen und Wasserburgen
entlang des Rheins entstanden. Gleichzei-
tig erlebte das zerstörte Neuss ein kleines
Wirtschaftswunder: Die schreckliche Heim-
Höhepunkt ihrer kriegerischen Raubzüge,
plünderten sie systematisch große Teile des
Niederrheins. Auch das damalige Neuss, das
als Zollstätte bekannt war und über pfalzarti-
ge Höfe und einen Klosterkomplex verfügte,
fiel den gefürchteten Seefahrern zum Opfer.
Es gehört zu der Paradoxie der Geschich-
te, dass der Adel die Zerstörungen durch
die Normannen weitgehend unbeschadet
überstand. Die Not der einfachen Menschen
sowie der Landbevölkerung muss allerdings
Braun-Hogenberg
20
G E S CH I CH T E