Seite 8 - chronik_neuwied_leseprobe

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Neuwied im Spiegel der Zeit
stimmten geeigneten Plätzen, um hier
eine längere Zeit des Jahres gemeinsam
zu verbringen. Die Altsteinzeit-Sied-
lungen Andernach und Gönners-
dorf waren geeignete Plätze, weil sie
beiderseits einer Engstelle des Rheins
lagen. Die Menschen lebten vor allem
von der Pferdejagd, und vieles spricht
dafür, dass sie hier für längere Zeit ver-
weilten, weil Pferde die Engstelle zum
Überqueren des Flusses nutzten und
deshalb leicht zu erlegen waren.
Die bevorzugte Jagdbeute lieferte
den Menschen in der Gönnersdorfer
Wohnstätte alles, was sie zum Leben
brauchten. Die Überreste von mehr als
60 Pferden wurden hier gefunden –
und die Funde belegen, dass die er-
legten Tiere zu 100 Prozent verwertet
wurden. Sie lieferten Fleisch als Nah-
rung, Felle für Kleidung und Decken
und wohl auch als Abdeckungen der
Holzhütten; aus den Schwei aaren
konnte eine Art Garn hergestellt wer-
den. Die Hütten waren o mehr als 30
Quadratmeter groß und boten einer
sechs- bis achtköp gen Familie Platz.
Aber der frühe Gönnersdorfer lebte
nicht vom Pferd allein. Er jagte auch
Eisfüchse und Schneehasen, Fische
und Vögel, wobei er es bei Letzteren
nicht nur auf das Fleisch abgesehen
hatte, sondern auch auf Ge eder und
Krallen, die sich für Schmuckstücke
verwenden ließen.
Die Archäologen konnten aus den
zahlreichen Funden ableiten, dass
das Lager sowohl zur Sommer- als
auch zur Winterzeit genutzt wurde.
Die Lebensform trug schon Züge,
die an die heutige Zeit erinnern:
Vorratshaltung und Abfallentsorgung
waren auch vor rund 15.500 Jahren
von Bedeutung. In Gönnersdorf
wurden Gruben gefunden, die ganz
unterschiedliche Zwecke erfüllten:
Die einen dienten als Kochstelle, die
anderen zur Müllbeseitigung und
wieder andere als Vorratskammern.
Die Menschen, die in den Gönners-
dorfer Holzhütten lebten, verfügten
über ausgeprägte handwerkliche
Fertigkeiten. Zahlreiche Steingeräte
wurden gefunden. Schar antige
Messer waren in Schä en aus Holz
oder Geweih eingesetzt. Andere
Werkzeuge dienten zur Bearbeitung
von Knochen oder Elfenbein. Mit
groben und feinen Bohrern konnten
Häute und Felle durchstochen werden
oder auch Schmuckanhänger und
Rondelle – in der Mitte durchbohrte
Scheiben, die aus Elfenbein oder
Rehgeweih angefertigt wurden.
Fast 400 Rondelle, die in Gön-
nersdorf gefunden wurden,
geben den Wissenscha lern
bis heute Rätsel auf. Ihre
Funktion ist nicht exakt
bekannt. Sie könnten sowohl
als Befestigungsstücke für die
Zeltplanen an den Behau-
sungen als auch als Schmuck
gedient haben.
Schon der Mensch vor
15.500 Jahren schmückte
sich gern. Die Kreativität des
frühen Gönnersdorfers kann-
te kaum Grenzen, wenn es
um die Wahl der Materialien
und die Gestaltungen
von Schmuckstücken
ging. Aus Knochen
und Tierzähnen, aus
Schneckenhäusern
und Muschelschalen
wurden Ketten, Perlen
und Anhänger her-
gestellt.
Noch beeindru-
ckender als die
Schmuckstücke sind
aber die Kunstwerke, die
Jäger- und Sammlergemeinscha en
hinterlassen haben, die vor rund
15.500 Jahren in Gönnersdorf lebten.
Vor allem auf Schieferplatten wurden
Frauen, eiszeitliche Tiere und Symbo-
le graviert. Fast 400 am Mittelrhein
gefundene Frauen guren können
gar als kunstgeschichtlicher
Meilenstein betrachtet
werden: Die stark
schematisierten Skulp-
turen lassen sich als
Anfänge der abstrakten
Kunst einstufen.
Anfänge der abstrakten Kunst:
Diese Frauen-Statuetten zählen
zu den kunstgeschichtlichen
Meilensteinen.
Mit weit entwickelter Technik wurden verschiedene Materialien durchbohrt – wie hier Hirschgrandeln (die Eckzähne von Hirschen), um sie als
Schmuckstücke oder Werkzeuge nutzen zu können.
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In Schiefer geritzte
abstrakte Frauen-
darstellungen
(oben) gehörten
ebenso zu den
Kunstwerken der
Gönnersdorfer
Menschen in der
Altsteinzeit wie
sehr konkrete Tier-
Darstellungen.