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Eine Kirche als Burg
H
eute bin ich über Rungholt
gefahren“, schrieb der Lyriker Detlev
von Liliencron 1882, „die Stadt ging
unter vor fünfhundert Jahren. Noch
schlagen die Wellen da wild und em-
pört, wie damals, als sie die Marschen
zerstört.“ Man schrieb den 15. Januar
1362, als der sagenhafte Ort Rungholt
mit Mann und Maus in den hausho-
hen Wellen der Zweiten Marcellusflut
versank.
1362 St.-Jakobi-Kirche Neuende
Doch nicht nur in Nordfriesland rich-
tete die „Grote Mandränke“ schwere
Verwüstungen an. Die Leybucht und
die Harlebucht fraßen sich tiefer ins
Land und auch der Jadebusen nahm
sich viel von der fruchtbaren Marsch.
Zwischen Sande, Ellens und Neu-
stadtgödens entstand das legendäre
Schwarze Brack als mächtige Seiten-
bucht und das Land zwischen Jade
und Weser wurde in einzelne Inseln
zersplittert. Auch die Maadebucht, die
seit alters her die Grenze zwischen
Östringen und Rüstringen bildete,
weitete sich aus.
Die Katastrophe kam mit Ansage: Ab
etwa 1150 n. Chr. hatten die Men-
schen an den Ufern der Maadebucht
gesiedelt, einem tiefen Einschnitt im
Geestrücken, der durch abfließendes
Schmelzwasser entstanden war. Ihre
Höfe bauten sie weiterhin auf Wur-
ten. Mit niedrigen Sommerdeichen
schützten sie aber nun das Marsch-
land, sodass sie ihre Äcker bestellen
konnten. Über Siele wurde das Grund-
wasser bei Ebbe ins Meer geleitet.
So sackte allerdings auch der Boden
merklich ab und der Torfabbau tat ein
Übriges. Die Winter- und Frühjahrsflu-
ten wüteten damit umso verheeren-
der und rissen die niedrigen Deiche
immer wieder ein. Als dann zu Beginn
des Jahrhunderts das Klima abkühlte,
gesellten sich Missernten, Schwäche
und der Schwarze Tod hinzu. Die Küs-
tenbewohner, die der Pest entronnen,
waren viel zu entkräftet, um dem
Blanken Hans Paroli zu bieten.
So gingen nicht nur Mensch und Vieh,
Haus und Hof vielfach unter – selbst
die mächtigen Kirchen aus schweren
Granitquadern, von den Eiszeitglet-
schern Jahrtausende zuvor aus
Skandinavien herangerollt, wurden
häufig einfach unterspült. Auch ein
Kirchenbau aus dem frühen 13. Jahr-
hundert am Südufer der Maadebucht
wurde zerstört. Seine Überreste
brachte Herrmann Haiduck vom Nie-
dersächsischen Institut für historische
Küstenforschung bei Ausgrabungen
1972 bis 1975 wieder ans Tageslicht.
Den grauen, etwa einen Meter hohen
Taufstein der ersten Kirche kann man
heute noch in der Neuender Kirche
bewundern.
Doch die schrecklichen Tage im
Januar 1362 weckten viele aus ihrer
Lethargie. Mit neuen Deichlinien
wollte man Groden für Groden das
Land zurückgewinnen. Dazu gehörte
auch der Innieter Groden – der ein-
gedeichte Groden – dessen Deich auf
der heutigen Kirchreihe neu entstand.
Der Westturm der Neuender St.-Jakobi-Kirche
entstand erst um 1520. Dennoch war er zu
Beginn des 20. Jahrhunderts ein beliebtes
Postkartenmotiv.
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