Gesundheit & Wellness / Sport

Mehr Kunst als Kampf

Ein Schrei. Laut und schrill. Und dann noch einer. Ich zucke zusammen, bleibe stehen und zweifle kurz. Will ich da wirklich rein? Dann gebe ich mir einen Ruck, drücke die Klinke herunter und öffne die Tür. Ich sehe eine Gruppe von Frauen und Männern, alle in weiß gekleidet. Sie laufen nebeneinander her, schlagen in die Luft – dann schreien sie wieder. Wie albern, ist das erste, was mir durch den Kopf schießt. Gerade als ich darüber nachdenke, auf dem Absatz kehrt zu machen, spricht mich eine der weißen Gestalten an. „Sie kommen zum Probetraining, richtig?“. Ein kurzes „Ja“ später finde ich mich inmitten einer Gruppe wieder, die darauf wartet, dass das 18-Uhr-Training beginnt. Als ich sehe, dass einige von ihnen auch nur ganz normale Sportklamotten tragen, fühle ich mich direkt wohler. Zeit für Gespräche, die länger dauern als „Hallo, bist du neu hier?“ bleibt aber nicht. In den nächsten Minuten fühle ich mich wie beim Vokabeltraining. „Senei“ heißt Trainer, die Trainingshalle wird „Dojo“ genannt und ich bin – zumindest für heute – ein „Karateka“, was so viel heißt wie Schüler.

Rituelle Begrüßung
Dass Etikette im Karate großgeschrieben wird, hatte ich bei meiner Internetrecherche aufgeschnappt. Und was das bedeutet, erfahre ich sofort. Jedes Training beginnt mit einer rituellen Begrüßung. Dabei werden die Augen geschlossen und es wird meditiert. So sollen die Alltagssorgen abblinzle und bin erstaunt, wie diszipliniert das von statten geht. Auf den Befehl „Mokuso Yame“ öffnen alle wieder ihre Augen. Nachdem mit weiteren Ausrufen der Trainingshalle die Ehre erwiesen und der Senei begrüßt ist, beginnt das eigentliche Training.
Zunächst wird – wie bei den meisten anderen Sportarten – viel Wert auf eineausgiebige Erwärmung gelegt. Ein wenig Kopfkreisen, Halsmuskulatur dehnen, bewegen. Arme kreisen und deren Muskulatur strecken. Dann sind Beine und Füße dran. Spätestens nach den Liegestütz und Sit-Ups fühle ich mich, als würde ich schon das Aufwärmen nicht überstehen. Dabei geht es jetzt erst richtig los.
Die erste Einheit nennt sich „Kihon“. Das ist die Grundschule, die alle Techniken beinhaltet. Zuerst lerne ich, wie ich stabil auf meinen Beinen stehe – mit tief gebeugten Knien. Schon nach wenigen Minuten schmerzen die Oberschenkel, ich kann kaum noch stehen, meine Beine zittern. Dann soll ich in dieser Stellung laufen, ohne hoch zu kommen. Ich japse nach Luft, ist das anstrengend. Es folgen einfache Armtechniken, Fauststöße nach vorn oder eine einfache Abwehr mit dem Arm.
Was bei der Gruppe von vorhin so einfach aussah, sind komplexe Bewegungsabläufe, die ich auf Anhieb nicht hinbekomme. Vor, zurück. Wie war das noch mit dem Fuß? Und wohin mit dem Arm? Mir wird bewusst, was für eine Körperbeherrschung dahinter steckt. Und selbst der Schrei, „Kiai“ genannt, entpuppt sich als gar nicht so blöd. Im Gegenteil, er hilft dabei, die Kraft durch explosives Ausatmen zu bündeln und bringt einen dazu, sich selbst zu überwinden. Zugegeben, als ich das erste Mal an der Reihe bin, ist es mir schon etwas peinlich. „Nur keine Hemmungen“, sagt der Senei. „Wer es schafft, die unnötige Scham zu überwinden, hat direkt etwas für das Selbstbewusstsein getan.“ Und tatsächlich. Mit jedem Mal fällt es mir leichter. Ein befreiendes Gefühl.


Meditativer Charakter
Die nächste Einheit heißt „Kata“. Hierbei wird ein Kampf gegen imaginäre Gegner simuliert, wobei Angriff und Abwehr zu einem einheitlichen Fluss von Techniken verbunden werden. Alles nach einem festgelegten Muster. Drei aus der Gruppe machen es vor und bewegen sich mit begeisternder Synchronität. Ich erfahre: Katas gibt es in vielen unterschiedlichen Formen und Schwierigkeitsgraden. Jede für sich schult nicht nur die Technik, sondern auch die innere Haltung: Atmung, Ruhe, Gelassenheit und Rhythmus. Ich realisiere: Karate ist viel mehr ist als ein dumpfes Draufgehaue, wie es in den einschlägigen Filmen auf der Leinwand vermittelt wird. „Die jahrelangen ständigen Wiederholungen haben auch einen meditativen Charakter“, erklärt Katja. „Während des Trainings kann ich komplett abschalten, danach fühle ich mich wie im Kopf geduscht.“ Sie überlegt kurz und nennt noch einen weiteren Nebeneffekt: „Zwar ist das Training nicht in erster Linie als Selbstverteidigungskurs zu verstehen, bei dem man schon nach kurzer Zeit für den Ernstfall bereit ist, aber ich fühle mich zunehmend sicherer, wenn ich mal alleine auf der Straße unterwegs bin.“
Jetzt bin ich an der Reihe. Was einfach klingt, macht mir ganz schön zu schaffen. Atme ich richtig, wie war das nochmal mit dem Rhythmus und der Spannung? Es fällt mir schwer, allein zwei dieser Bewegungsmuster aneinander zu reihen. „Das ist ganz normal“, beruhigt mich Katja, die schon seit einem Jahr dabei ist. „Mit der Zeit bekommt man ein ganz neues Gefühl für seinen Körper. Vieles funktioniert dann wie von alleine.“ Ich beginne zu erahnen, wie viel Mühe und Übung selbst in einer einfachen Kata stecken. Obwohl meine Arme schmerzen und die Beine schwer sind: Mein Ehrgeiz ist geweckt, ich versuche es noch einmal.

Kein Körperkontakt
Als letztes erfahre ich, um was es beim „Kumite“ geht. Hierbei stehen sich zwei Karateka gegenüber und beginnen, nach Absprache mit gegenseitigen Angriffen und Abwehrtechniken. Besonders bei Anfängern gibt es dabei – wenn alles gut läuft – keinen Körperkontakt. Der Respekt vor dem anderen steht immer an erster Stelle. Anja und Karsten machen es vor: Ihr Fuß zuckt hoch und stoppt Millimeter hinter seinem Kopf. „Durch das Abstoppen der Techniken vor dem Körper des Gegners bekommt man ein hervorragendes Distanzgefühl“, erklärt der Senei. Und wenn das mit dem Abstoppen mal nicht hinhaut? Naja, das ein oder andere blaue Auge habe es schon gegeben, erfahre ich. Aber schwerwiegendere Verletzungen seien beim Karate eine Seltenheit. Ich bin beruhigt – schaue dabei aber trotzdem heute nur zu. Dafür ist beim nächsten Mal noch Gelegenheit. Denn – und das hätte ich vor 60 Minuten nicht für möglich gehalten – ich werde wiederkommen.

 

 

Fotoquellen:

28266067/fotolia.com

Shmel/fotoloia.com

 

 

Beitragsverfasser: active women
Datum der Veröffentlichung: 02.04.2015



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